Narzissmus. Was ist das überhaupt? Als ich am Dienstag mit meinen Recherchen dazu begann, dachte ich zwischendurch darüber nach, einfach in die Botanik zu wechseln und einen Artikel über Narzissen zu schreiben. Allein die Literaturnachweise bei Wikipedia sprengen jede andere Informationssuche, die ich bislang angegangen bin.
Wie so häufig, wenn ich einen Beitrag zu einem ganz bestimmten Thema aus der Psychologie verfasse, will ich zwei meiner wichtigsten Ansprüche erfüllen. Ich möchte keinen Schwachsinn verzapfen, der sich nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen deckt und gleichzeitig möchte ich nicht zu analytisch werden, damit der Beitrag am Ende immer noch für alle verständlich bleibt. Daher schicke ich jetzt voraus, dass ich in diesem Beitrag vor allem meine Eindrücke und Erlebnisse zum Thema Narzissmus und Spielsucht verarbeiten werde und diese sicherlich nur einen kleinen Teil der Gesamtthematik wiedergeben.
Im Alltag verstehen viele Menschen unter Narzissmus Arroganz, Egozentrik oder sogenannte Selbstliebe. Doch das ist vielleicht etwas zu kurz gedacht. Im Verlauf dieses Beitrags werde ich auf große Teile der verschiedenen Bedeutungen des Narzissmus verzichten. Jedoch möchte ich auf die Verbindungen zur Sozialpsychologie eingehen. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung, die in der Diagnostik zwar nicht klar charakterisiert, aber trotzdem häufig in der Persönlichkeitsdiagnose verwendet wird, kann mit Hilfe der ICD10-Klassifikation geprüft werden.
Dieser Beitrag fällt gewiss nicht in die Rubrik „erste Schritte“. Bevor man sich als Spieler mit dem Begriff Narzissmus in Verbindung mit seiner Spielsucht auseinandersetzt, beschäftigt man sich sicherlich zunächst mit anderen Themen. In den ersten Wochen und Monaten einer Therapie kratzt man als Spieler eher an der Oberfläche seiner Persönlichkeitsstruktur.
Das Grandiose
Wenn ich persönlich an Narzissmus oder eine narzisstische Persönlichkeitsstörung denke, dann fällt mir als erstes immer das Wort „grandios“ ein. Das Grandiose ist das, was der vermeintliche Narzisst seinem Umfeld präsentiert. Er versucht, besonders witzig zu sein, besonders gut auszusehen, mit Wissen oder wertvollen Taten zu glänzen. Die Profilierung im Allgemeinen steht im Vordergrund. Hierbei ist ihm jedes Mittel recht. Es wird gelogen und geleugnet, betrogen und ausgenutzt, vieles erscheint sehr selbstbezogen und auf den eigenen Vorteil bedacht.
Doch das alles passiert aus einem geringen Selbstwertgefühl heraus, das er durch die Präsentation seiner Grandiosität kompensieren möchte. Oftmals leiden krankhafte Narzissten unter massiven Selbstzweifeln, Minderwertigkeitsgefühlen und Scham. Grundsätzlich ist ein Höchstmaß an Aufrichtigkeit zu sich selbst nötig, um überhaupt an einen Punkt zu kommen, hinter die eigene harte Schale zu blicken.
Narzisstische Personen leiden häufig unter einem Mangel an Einfühlungsvermögen und reagieren auf Kritik überempfindlich. In der Kritik laufen sie Gefahr, dass ihr brüchiges, nicht authentisches Selbst angegriffen und beschädigt wird. Narzissten fordern von anderen Menschen bestimmtes Verhalten ein, das sie selbst nicht in der Lage sind einzuhalten. Das Sprichwort „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu“ ist bei Narzissten außer Kraft gesetzt.
In meiner Therapie 2008 bekam ich während eines Einzelgesprächs eine spannende Aufgabe, die mich auf die narzisstischen Strukturen in mir brachte. Ich hatte gegenüber meiner Therapeutin erwähnt, dass mir schon oft aufgefallen war, dass ich in den absurdesten Situationen log. Deshalb sollte ich einen Tag lang nur darauf achten, was ich anderen Menschen sage und erzähle und auf einem kleinen Zettel nach jedem Wortwechsel notieren, ob ich gelogen hatte oder nicht. Zwischen sieben Uhr morgens und zehn Uhr abends habe ich dann 23 Lügen auf diesem Zettel notiert. In der folgenden Sitzung betrachteten wir dann jede einzelne Lüge und ich sollte mir Gedanken machen, welche Motivation sich hinter den einzelnen Lügen verbarg.
Bei einigen Lügen wich ich einfach potentiell unangenehmen Diskussionen aus, bei ein paar wenigen Lügen wollte ich mein Gegenüber nicht verletzen. Doch in einigen Situationen kristallisierte sich heraus, dass ich andere davon überzeugen wollte, dass ich etwas Besonderes sei oder dass ich einer negativen Einschätzung meiner Person widersprach, obwohl sie vielleicht zutraf. In den nächsten Stunden kam auch zum Vorschein, dass ich in Gesprächen sehr gerne die Wörter „nie“ und „immer“ benutzte. Ich nenne diese Wörter mittlerweile Suchtwörter. Mir war aufgefallen, dass besonders Spieler, die von sich selbst berichten, überdurchschnittlich häufig „nie“ und „immer“ benutzen.
„Ich habe nie mit zwei Euro Einsatz gespielt.“, „Ich bin immer meinen Pflichten nachgekommen.“ „Ich bin nie mit einem Gewinn nach Hause gegangen.“, „Ich bin immer am nächsten Tag wieder spielen gegangen.“
Spieler denken häufig in Extremen und speichern Erlebnisse, positive wie negative, im schwärzesten Schwarz oder im leuchtendsten Weiß ab. Dies führt automatisch dazu, dass sie sich nicht wahrheitsgemäß beurteilen können. Auch hier kommen dann in Gesprächen immer wieder die „Wir“-Sätze und die „Man“-Sätze zum Vorschein, wenn sie eigentlich von sich selbst sprechen. Einen „Ich“-Satz zu verwenden würde ja bedeuten, dass sie sich bei bestimmten Aussagen selbst in Frage stellen müssten und das geht natürlich gar nicht. 😉
Der krankhafte Drang zum Lügen, ohne dabei Schuld- oder Schamgefühle zu entwickeln, ist Ausdruck des Wunsches, sich Zuwendung, Anerkennung und Geltung zu sichern oder in kritischen Situationen seinen Willen durchzusetzen.
Der Erfolgshunger
Auch wenn das problematische Spielverhalten grundsätzlich das ist, was zu den größten Problemen (Schulden, Arbeitslosigkeit, Stress, Scheidung) im Leben des narzisstischen Spielers führt, so ist es trotzdem „nur“ das Symptom der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Ich halte es für unvermeidbar, dass der narzisstische Spieler diesen Unterschied erkennt und in seine Therapie einbaut. Die psychische Störung ist zuerst da und aus ihr entwickelt sich das pathologische Glücksspiel. Im Folgenden erläutere ich mögliche Faktoren, die zur Entwicklung der Störung beitragen.
Schmerzhafte Erfahrungen von geringer oder keiner Bestätigung, Aufmerksamkeit, Zuneigung und Liebe in Kindheit und Jugend führen dazu, dass der Narzisst zunächst eine Sucht nach ständiger Anerkennung und Bestätigung entwickelt. Hierbei steht vor allem der Zwang im Vordergrund, erfolgreich sein zu müssen und immer 100% Leistung zu bringen. Die Person ist der Überzeugung, dass nur Höchstleistungen in allen Lebensbereichen (in Beruf, Freizeit, Sport, Partnerschaft, sozialem Umfeld) eigene Zufriedenheit und Anerkennung durch Fremde einbringt.
Doch diese Sucht nach Erfolgen führt nicht zu Zufriedenheit, Gelassenheit, Ruhe und Selbstvertrauen, selbst wenn diese sich einstellen. Die Unruhe oder Unsicherheit lässt meistens nicht nach. Hier kann ich auch aus eigenen Erfahrungen sprechen. Bei mir gab es viele Situationen, in denen ich durch dieses Verhalten versuchte, schlechte Stimmungen zu vertreiben, ein gewisses Gefühl von Leere zu kompensieren und mich großartig (grandios) zu fühlen. Die Abhängigkeit von ständigen Erfolgen und die übertriebene Selbstdarstellung sollten immer wieder meine Selbstwertkrisen, Unsicherheiten und Stimmungsschwankungen überdecken.
Ich wiederhole mich gerne an dieser Stelle: Ohne die Möglichkeit, sich selbst zu hinterfragen und selbstkritisch mit vergangenen Lebenserfahrungen umzugehen, ist es nicht möglich, auf den Kern der Thematik zu stoßen. Das Thema Narzissmus enthält eine Vielzahl von Faktoren und bedarf eines gründlichen Blicks in die Untiefen der eigenen Persönlichkeitsstruktur.
Jetzt versuche ich noch die Verbindung zur Spielsucht herzustellen. Um das grandiose Selbst mit all den Lügen und Manipulationen aufrecht zu erhalten, muss der Spieler Unmengen von Energie aufwenden. Ebenso ist es bei dem eigenen (bzw. übertragenem) Erfolgsanspruch, der jeden Tag dafür sorgt, dass der Spieler sich zwingt, sein komplettes Leistungspotential abzurufen. An dieser Stelle findet der Betroffene durch das Spielen ein Ventil, mit dem er sich selber die Erlaubnis gibt, nicht funktionieren zu müssen. Er schaltet nach einem stressigen Arbeitstag ab, er „flieht“ nach Kränkungen ins Glücksspiel, um das Erlebte zu verdrängen, er rebelliert gegen eigene und fremde Leistungsansprüche, er versucht, den emotionalen Stress durch seine angespannte Lebenssituation im Spiel zu ertränken oder er spielt, um die Bedeutungslosigkeit seiner kontinuierlichen Anstrengungen zu vergessen.
Dies sind nur ein paar mögliche Faktoren, die ihn zum Spielen verleiten könnten. Das Spielen, besonders der Gewinn, hat eine Form der Selbstwirksamkeit, die dem Spieler fremd ist. Ohne eigene körperliche, geistige oder emotionale Anstrengung kann er im Glücksspiel (vermeintlich) erfolgreich sein und Glück empfinden. Die ständige Suche nach diesem Empfinden und der Ausschüttung von Glückshormonen führt immer wieder zu dieser Handlung. Das kennt er nicht im Alltag, denn dort sind 100% gerade gut genug, um sich Tag für Tag über Wasser zu halten. Für mich waren es immer eineinhalb Fliegen mit einer Klappe. Auf der einen Seite konnte ich meinem Stress entfliehen und auf der anderen Seite hatte ich zusätzlich noch die Chance auf Erfolg bzw. Gewinn.
Momentan überlege ich, ob ich in einem weiteren Beitrag noch tiefer auf die Verwicklungen mit der Spielsucht eingehe und gleichzeitig einige Lösungsansätze erläutere.
Ich persönlich habe zum Ende dieses Beitrags das Gefühl, dass ich mit ihm meine inhaltliche Wohlfühlzone verlassen habe. Grundsätzlich habe ich den Anspruch, meinen Blog in einer Struktur zu halten, in der ich mich an den alltäglichen Problemen orientiere. Das war mit diesem Thema nicht möglich. Alles erscheint mir abstrakter als sonst. Da es sich bei diesem sehr speziellen Thema unter anderem um das Wunschthema eines ehemaligen Mitpatienten handelt, war es schwer, mich an meine gewohnten Standards zu halten.