Narziss und Geldschwund

Narzissmus. Was ist das überhaupt? Als ich am Dienstag mit meinen Recherchen dazu begann, dachte ich zwischendurch darüber nach, einfach in die Botanik zu wechseln und einen Artikel über Narzissen zu schreiben. Allein die Literaturnachweise bei Wikipedia sprengen jede andere Informationssuche, die ich bislang angegangen bin.

Wie so häufig, wenn ich einen Beitrag zu einem ganz bestimmten Thema aus der Psychologie verfasse, will ich zwei meiner wichtigsten Ansprüche erfüllen. Ich möchte keinen Schwachsinn verzapfen, der sich nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen deckt und gleichzeitig möchte ich nicht zu analytisch werden, damit der Beitrag am Ende immer noch für alle verständlich bleibt. Daher schicke ich jetzt voraus, dass ich in diesem Beitrag vor allem meine Eindrücke und Erlebnisse zum Thema Narzissmus und Spielsucht verarbeiten werde und diese sicherlich nur einen kleinen Teil der Gesamtthematik wiedergeben.

Im Alltag verstehen viele Menschen unter Narzissmus Arroganz, Egozentrik oder sogenannte Selbstliebe. Doch das ist vielleicht etwas zu kurz gedacht. Im Verlauf dieses Beitrags werde ich auf große Teile der verschiedenen Bedeutungen des Narzissmus verzichten. Jedoch möchte ich auf die Verbindungen zur Sozialpsychologie eingehen. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung, die in der Diagnostik zwar nicht klar charakterisiert, aber trotzdem häufig in der Persönlichkeitsdiagnose verwendet wird, kann mit Hilfe der ICD10-Klassifikation geprüft werden.

Dieser Beitrag fällt gewiss nicht in die Rubrik „erste Schritte“. Bevor man sich als Spieler mit dem Begriff Narzissmus in Verbindung mit seiner Spielsucht auseinandersetzt, beschäftigt man sich sicherlich zunächst mit anderen Themen. In den ersten Wochen und Monaten einer Therapie kratzt man als Spieler eher an der Oberfläche seiner Persönlichkeitsstruktur.

Das Grandiose

Wenn ich persönlich an Narzissmus oder eine narzisstische Persönlichkeitsstörung denke, dann fällt mir als erstes immer das Wort „grandios“ ein. Das Grandiose ist das, was der vermeintliche Narzisst seinem Umfeld präsentiert. Er versucht, besonders witzig zu sein, besonders gut auszusehen, mit Wissen oder wertvollen Taten zu glänzen. Die Profilierung im Allgemeinen steht im Vordergrund. Hierbei ist ihm jedes Mittel recht. Es wird gelogen und geleugnet, betrogen und ausgenutzt, vieles erscheint sehr selbstbezogen und auf den eigenen Vorteil bedacht.

Doch das alles passiert aus einem geringen Selbstwertgefühl heraus, das er durch die Präsentation seiner Grandiosität kompensieren möchte. Oftmals leiden krankhafte Narzissten unter massiven Selbstzweifeln, Minderwertigkeitsgefühlen und Scham. Grundsätzlich ist ein Höchstmaß an Aufrichtigkeit zu sich selbst nötig, um überhaupt an einen Punkt zu kommen, hinter die eigene harte Schale zu blicken.

Narzisstische Personen leiden häufig unter einem Mangel an Einfühlungsvermögen und reagieren auf Kritik überempfindlich. In der Kritik laufen sie Gefahr, dass ihr brüchiges, nicht authentisches Selbst angegriffen und beschädigt wird. Narzissten fordern von anderen Menschen bestimmtes Verhalten ein, das sie selbst nicht in der Lage sind einzuhalten. Das Sprichwort „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu“ ist bei Narzissten außer Kraft gesetzt.

In meiner Therapie 2008 bekam ich während eines Einzelgesprächs eine spannende Aufgabe, die mich auf die narzisstischen Strukturen in mir brachte. Ich hatte gegenüber meiner Therapeutin erwähnt, dass mir schon oft aufgefallen war, dass ich in den absurdesten Situationen log. Deshalb sollte ich einen Tag lang nur darauf achten, was ich anderen Menschen sage und erzähle und auf einem kleinen Zettel nach jedem Wortwechsel notieren, ob ich gelogen hatte oder nicht. Zwischen sieben Uhr morgens und zehn Uhr abends habe ich dann 23 Lügen auf diesem Zettel notiert. In der folgenden Sitzung betrachteten wir dann jede einzelne Lüge und ich sollte mir Gedanken machen, welche Motivation sich hinter den einzelnen Lügen verbarg.

Bei einigen Lügen wich ich einfach potentiell unangenehmen Diskussionen aus, bei ein paar wenigen Lügen wollte ich mein Gegenüber nicht verletzen. Doch in einigen Situationen kristallisierte sich heraus, dass ich andere davon überzeugen wollte, dass ich etwas Besonderes sei oder dass ich einer negativen Einschätzung meiner Person widersprach, obwohl sie vielleicht zutraf. In den nächsten Stunden kam auch zum Vorschein, dass ich in Gesprächen sehr gerne die Wörter „nie“ und „immer“ benutzte. Ich nenne diese Wörter mittlerweile Suchtwörter. Mir war aufgefallen, dass besonders Spieler, die von sich selbst berichten, überdurchschnittlich häufig „nie“ und „immer“ benutzen.

„Ich habe nie mit zwei Euro Einsatz gespielt.“, „Ich bin immer meinen Pflichten nachgekommen.“ „Ich bin nie mit einem Gewinn nach Hause gegangen.“, „Ich bin immer am nächsten Tag wieder spielen gegangen.“

Spieler denken häufig in Extremen und speichern Erlebnisse, positive wie negative, im schwärzesten Schwarz oder im leuchtendsten Weiß ab. Dies führt automatisch dazu, dass sie sich nicht wahrheitsgemäß beurteilen können. Auch hier kommen dann in Gesprächen immer wieder die „Wir“-Sätze und die „Man“-Sätze zum Vorschein, wenn sie eigentlich von sich selbst sprechen. Einen „Ich“-Satz zu verwenden würde ja bedeuten, dass sie sich bei bestimmten Aussagen selbst in Frage stellen müssten und das geht natürlich gar nicht. 😉

Der krankhafte Drang zum Lügen, ohne dabei Schuld- oder Schamgefühle zu entwickeln, ist Ausdruck des Wunsches, sich Zuwendung, Anerkennung und Geltung zu sichern oder in kritischen Situationen seinen Willen durchzusetzen.

Der Erfolgshunger

Auch wenn das problematische Spielverhalten grundsätzlich das ist, was zu den größten Problemen (Schulden, Arbeitslosigkeit, Stress, Scheidung) im Leben des narzisstischen Spielers führt, so ist es trotzdem „nur“ das Symptom der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Ich halte es für unvermeidbar, dass der narzisstische Spieler diesen Unterschied erkennt und in seine Therapie einbaut. Die psychische Störung ist zuerst da und aus ihr entwickelt sich das pathologische Glücksspiel. Im Folgenden erläutere ich mögliche Faktoren, die zur Entwicklung der Störung beitragen.

Schmerzhafte Erfahrungen von geringer oder keiner Bestätigung, Aufmerksamkeit, Zuneigung und Liebe in Kindheit und Jugend führen dazu, dass der Narzisst zunächst eine Sucht nach ständiger Anerkennung und Bestätigung entwickelt. Hierbei steht vor allem der Zwang im Vordergrund, erfolgreich sein zu müssen und immer 100% Leistung zu bringen. Die Person ist der Überzeugung, dass nur Höchstleistungen in allen Lebensbereichen (in Beruf, Freizeit, Sport, Partnerschaft, sozialem Umfeld) eigene Zufriedenheit und Anerkennung durch Fremde einbringt.

Doch diese Sucht nach Erfolgen führt nicht zu Zufriedenheit, Gelassenheit, Ruhe und Selbstvertrauen, selbst wenn diese sich einstellen. Die Unruhe oder Unsicherheit lässt meistens nicht nach. Hier kann ich auch aus eigenen Erfahrungen sprechen. Bei mir gab es viele Situationen, in denen ich durch dieses Verhalten versuchte, schlechte Stimmungen zu vertreiben, ein gewisses Gefühl von Leere zu kompensieren und mich großartig (grandios) zu fühlen. Die Abhängigkeit von ständigen Erfolgen und die übertriebene Selbstdarstellung sollten immer wieder meine Selbstwertkrisen, Unsicherheiten und Stimmungsschwankungen überdecken.

Ich wiederhole mich gerne an dieser Stelle: Ohne die Möglichkeit, sich selbst zu hinterfragen und selbstkritisch mit vergangenen Lebenserfahrungen umzugehen, ist es nicht möglich, auf den Kern der Thematik zu stoßen. Das Thema Narzissmus enthält eine Vielzahl von Faktoren und bedarf eines gründlichen Blicks in die Untiefen der eigenen Persönlichkeitsstruktur.

Jetzt versuche ich noch die Verbindung zur Spielsucht herzustellen. Um das grandiose Selbst mit all den Lügen und Manipulationen aufrecht zu erhalten, muss der Spieler Unmengen von Energie aufwenden. Ebenso ist es bei dem eigenen (bzw. übertragenem) Erfolgsanspruch, der jeden Tag dafür sorgt, dass der Spieler sich zwingt, sein komplettes Leistungspotential abzurufen. An dieser Stelle findet der Betroffene durch das Spielen ein Ventil, mit dem er sich selber die Erlaubnis gibt, nicht funktionieren zu müssen. Er schaltet nach einem stressigen Arbeitstag ab, er „flieht“ nach Kränkungen ins Glücksspiel, um das Erlebte zu verdrängen, er rebelliert gegen eigene und fremde Leistungsansprüche, er versucht, den emotionalen Stress durch seine angespannte Lebenssituation im Spiel zu ertränken oder er spielt, um die Bedeutungslosigkeit seiner kontinuierlichen Anstrengungen zu vergessen.

Dies sind nur ein paar mögliche Faktoren, die ihn zum Spielen verleiten könnten. Das Spielen, besonders der Gewinn, hat eine Form der Selbstwirksamkeit, die dem Spieler fremd ist. Ohne eigene körperliche, geistige oder emotionale Anstrengung kann er im Glücksspiel (vermeintlich) erfolgreich sein und Glück empfinden. Die ständige Suche nach diesem Empfinden und der Ausschüttung von Glückshormonen führt immer wieder zu dieser Handlung. Das kennt er nicht im Alltag, denn dort sind 100% gerade gut genug, um sich Tag für Tag über Wasser zu halten. Für mich waren es immer eineinhalb Fliegen mit einer Klappe. Auf der einen Seite konnte ich meinem Stress entfliehen und auf der anderen Seite hatte ich zusätzlich noch die Chance auf Erfolg bzw. Gewinn.

Momentan überlege ich, ob ich in einem weiteren Beitrag noch tiefer auf die Verwicklungen mit der Spielsucht eingehe und gleichzeitig einige Lösungsansätze erläutere.

Ich persönlich habe zum Ende dieses Beitrags das Gefühl, dass ich mit ihm meine inhaltliche Wohlfühlzone verlassen habe. Grundsätzlich habe ich den Anspruch, meinen Blog in einer Struktur zu halten, in der ich mich an den alltäglichen Problemen orientiere. Das war mit diesem Thema nicht möglich. Alles erscheint mir abstrakter als sonst. Da es sich bei diesem sehr speziellen Thema unter anderem um das Wunschthema eines ehemaligen Mitpatienten handelt, war es schwer, mich an meine gewohnten Standards zu halten.

Gönnen Können für Fortgeschrittene

Nachdem ich sehr schöne und ereignisreiche Weihnachten verbracht habe, möchte ich mich heute noch einmal mit dem Thema Geld beschäftigen. Auf besonderen Wunsch einer meiner Leserinnen gehe ich mit diesem Beitrag auf die Wertschätzung von Geld und dem Umgang mit meinem Suchtmittel ein.

Als aktiver Spieler hatte ich den angemessenen Bezug zu Geld völlig verloren. Wenn ich damals 50 DM in der Hand hatte, dann war dieser Geldschein kein Großeinkauf bei Aldi, keine Einladung zu einem Kinobesuch mit meiner Freundin, kein leckeres Abendessen beim Italiener oder ein neues Buch und eine neue CD. Es waren in meinem Kopf immer nur 10 Fünf-Mark-Stücke für den Automaten.

Vor allem seit 2006, als die Automaten mit den Punktesystemen ausgestattet wurden, verliert man als Spieler den Überblick über die Beträge, die man einsetzt. Wo ich früher 150 DM einsetzte und vielleicht 200 DM gewann, waren jetzt die Hoffnungen auf Gewinne von bis zu 1000€ Anlass zu höheren und exzessiven Investitionen. Doch das größte Problem für den Spieler ist an dieser Stelle, dass er sich gerade bei einem sehr hohen Tagesverlust immer noch einbilden kann, er könne die Verluste noch am selben Tag wieder ausgleichen. Das ist natürlich in 99% der Fälle völlig utopisch.

Für mich war es ein langer Weg, um einen 20-Euro-Schein in meinem Portemonnaie wieder mit schöneren Dingen in Verbindung zu bringen. Meine eigene Wertschätzung und die Veränderungen in meinem Leben gaben mir automatisch die Wünsche zurück, die ich vor meiner Sucht auch verfolgt hatte. Plötzlich kam ich wieder auf die Idee, mir mal leckere, etwas teurere Lebensmittel zu kaufen. Die obligatorischen Notrationen von 4kg Nudeln und 1kg Reis wurden mit der Zeit durch mehr Vielfalt ersetzt. Aber auch heute habe ich ganz hinten im Schrank noch zwei Fertigbackmischungen für Brot, vier oder fünf Tütensuppen und eine Packung Nudeln für den Fall geparkt, dass ich auch aus anderen Gründen als einem Rückfall mal in Bedrängnis komme.

Doch was hat eigentlich dazu beigetragen? Ich bin der Überzeugung, dass sich meine eigene Einstellung zum Geld erst zum Ende meiner anderen Veränderungen (Abstinenz, Therapie, Schuldenregulierung) positiv entwickelt hat. Ich stelle mir da eine Art Pyramide vor, vielleicht so etwas wie die Bedürfnis-Pyramide von A. Maslow. Bei mir besteht dann das Fundament aus meiner Abstinenz. Wenn die nicht gegeben ist, dann ist es auch nicht möglich, die 20€ als etwas anderes zu erkennen als 20 Minuten Spielzeit am Automaten. Darüber kommt dann die Schuldenregulierung und das eigenverantwortliche Handeln bei der Bezahlung von Rechnungen, Miete und anderen Kosten. Besonders meine private Insolvenz und die dadurch entstandene Pflicht, dass ich mir keine Fehltritte mehr erlauben konnte, verhalf mir dazu, mich zu Beginn eines jeden Monats erst um die Verbindlichkeiten zu kümmern und offene Beträge nicht drei Monate vor mir herzuschieben. Wenn ich dann stabil bin und meinen alltäglichen Pflichten wie Arbeit, Ordnung und Sauberkeit nachkomme und der Wunsch nach Beziehungen und anderen sozialen Kontakten wieder gestärkt ist, entwickelt sich auch wieder das Bedürfnis, mir etwas Gutes zu tun, meine Wohnung zu verschönern, auszugehen, für mich zu sorgen, einfach wieder zu leben.

Ich glaube, dass ich ein paar schöne Beispiele aus den letzten Monaten habe. Mein altes Fahrrad war nicht mehr fahrtüchtig und mein Vater bot mir an, es mit einem Ersatzfahrrad aus seinem Schuppen zu tauschen. Aber es fehlten Katzenaugen und eine Klingel. Mein Vater wollte das bezahlen und wenn ich rückfällig gewesen wäre, dann hätte ich das entweder annehmen müssen oder ich hätte es abgelehnt, weil es mir scheiß egal gewesen wäre, ob ich jetzt klingeln kann oder im Dunkeln gesehen werde. Doch jetzt hatte ich ein bisschen Geld übrig und fuhr mit Freude in den nächsten Fahrradladen, um 12 Euro zu investieren. Vielleicht klingt das jetzt für andere Menschen nicht erwähnenswert, aber für mich ist so etwas ein Erfolg.

Während meiner Therapie habe ich mich bei Stadtbesuchen und in der Cafeteria sieben Wochen lang zurückgehalten, damit ich ein Polster für meine Rückkehr in meine Wohnung hatte. Am Tag meiner Entlassung habe ich dann 96€ für Lebensmittel, Putzzeug und Getränke im Supermarkt ausgegeben. Für mich ein absolutes Highlight.

Dann habe ich mir drei Alben gekauft, die vor ungefähr 12 Jahren Opfer meiner Sucht wurden. Das war für mich ein toller Moment, weil ich mir etwas „zurückholte“, was mir mal sehr wichtig war, bevor das Spielen noch wichtiger wurde. Genauso schön ist es, meinem Patenkind ein selbst gebasteltes Taufgeschenk zu überreichen und dabei keine Magenschmerzen zu bekommen, wenn ich dafür 45€ ausgeben muss.

Jemand hat mir gegenüber mal ihre Verwunderung geäußert, dass sie auch in spielfreien Wochen nicht weiß, was sie mit dem Geld anfangen soll. Wenn ich nicht langfristig spielfrei war, dann führte ich zwei Leben. Das maßlose Leben in meiner Sucht mit Kontrollverlust und spielen bis zum letzten Cent war der eine Teil. Der andere Teil war Geiz pur. Jede Packung Schinken wurde vierfach geprüft, bevor ich sie kaufte und an Ausgaben für Freizeit und Wohlbefinden war nicht zu denken. Es könnte ja sein, dass ich nächste Woche doch noch Geld benötigte, um spielen zu gehen. Dieser Geiz ist vielleicht auch nur Teil einer langfristigen Selbstverarschung wie in diesem Beitrag. Wenn man sich als Spieler selbst auf diese Gedanken prüft, dann gibt es vielleicht schon ein Argument dafür, warum man keinen Blick für tolle Neuanschaffungen und kleine Freuden hat.

Terminator haben auch Gefühle

Nirgendwo kann man so viele verschiedene Menschen kennenlernen wie in einer psychosomatischen Klinik. Sie sind leise oder laut, extrovertiert oder introvertiert, sympathisch oder unsympathisch, freundlich oder unfreundlich. Doch einige sind mir besonders in Erinnerung geblieben.

An meinem Anreisetag 2004 saß ich mit zwei weiteren Patienten vor dem Zimmer, in dem die Aufnahmeuntersuchung stattfinden sollte. Ich kannte die Klinik bereits von der Therapie 2002 und wusste, dass ich die ersten vier Wochen auf einem Doppelzimmer zu verbringen hatte.

Normalerweise wurde man mit jemandem in ein Zimmer gesteckt, der schon einige Zeit da war. Die Klinik handhabte das so, damit man direkt einen Ansprechpartner hatte und schneller in der Therapie ankommen konnte. Ich war sehr froh über diese Regelung, denn mit einen von den Beiden wollte ich keinesfalls auf ein Zimmer. Mitpatient 1 wirkte auf den ersten Blick ziemlich verwahrlost und runtergekommen. Mitpatient 2 saß breitbeinig auf seinem Stuhl und machte auf mich den Eindruck, als hätte er in seinem Leben bislang jede Frage an ihn mit einem Faustschlag beantwortet. Und als er ins Behandlungszimmer gerufen wurde und er den linken Mundwinkel hochzog und mit seinem Ziegefinger an der Nase vorbeifuhr, erkannte ich das gesamte Ausmaß des Schreckens. Er war mindestens zwei Meter groß und hinter seinen Schultern hätte man entspannt einen Kleinwagen verstecken können. „Na, das kann ja heiter werden…“, dachte ich.

Nach den Untersuchungen kam die Pflegerin um uns auf die Station zu begleiten. Sie begrüßte uns und sagte: „Eigentlich ist es bei uns unüblich, zwei neue Patienten auf ein Doppelzimmer einzuteilen, aber leider ist das gerade nicht anders möglich. Daher werden Sie, Herr Terminator und…“ („Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht…“) „…Sie, Herr Albers…“ („Nooooooo!!“) „…gemeinsam Zimmer xy beziehen.“

Herr Terminator nickte mir zu und wir gingen auf unser Zimmer. Während wir unsere Taschen auspackten, schielte ich immer wieder zu ihm rüber. Er hatte etwas sehr Finsteres an sich und bei näherem Betrachten entdeckte ich, dass er sehr viele Ringe an seinen Fingern hatte und seine Fingerknöchel waren übersät mit kleineren Narben. Während ich mir ausmalte, wie ich morgens vorm Frühstück von ihm als Sandsack mit zwei Kleiderbügeln an die Zimmerdecke gehängt wurde, fasste ich trotzdem den Mut, ihn anzusprechen. Ich erhielt zwar nur zweisilbige Antworten, aber immerhin antwortete er und ich fing einfach an, von mir zu erzählen. Als ich sagte, dass ich mal wieder arbeitslos war und wegen dem Spielen meine Arbeitsstelle verloren hatte, ergriff ich die Chance zu fragen, was er denn beruflich machte. „Ich kann nur Zuhälter und Drogendealer. Ich hab‘ nix gelernt.“ Na super…

Doch als ich ansprach, dass ich 2002 schon einmal hier war, wurde er neugierig. „Echt? Dann kannste mir ja sagen, wie das ganze Therapiezeugs hier abläuft. Erzähl‘ mal.“ Ich begann damit, ihm die Tagesabläufe zu erläutern und welche Themen in den Gruppen besprochen wurden. Nachdem wir dann nachmittags unsere erste Gruppe hatten, in der ich sehr redselig war, lag ich danach mit dem Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“ auf meinem Bett als er zur Tür hereinkam. „Bist Du sowas wie’n Therapiestreber? Was liest Du denn da schon wieder? Wir hatten doch grad erst Gruppe.“, sagte er mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht. Ich erzählte ihm von dem Buch und er setzte sich auf sein Bett. „O.K.“, sagte er, „also zuerst war ich ziemlich angepisst, dass die mich mit so ’nem gottverdammten Schnösel auf ein Zimmer stecken. Aber ich kriege grad das Gefühl, dass ich mich am besten an Dich halte, wenn ich den ganzen Scheiß loswerden will.“

In den folgenden Tagen knackte die harte Schale, die man sich wohl aneignen muss, wenn man in diesem Milieu überleben möchte. Wie sich herausstellte war er in seiner Stadt der Gefürchtetste in seiner Tätigkeit, vor allem bei der Konkurrenz. Ich kann mich nicht mehr an alle lebensgefährlichen Situationen erinnern, von denen er mit erzählte, aber es waren so einige. Bei den meisten Geschichten saß ich nur mit großen Augen und offenem Mund auf unserem Zimmer und bekam bereits Angst vor ihm, wenn ich nur zuhörte. Aber ich spürte schnell, dass zumindest ich keine Angst haben musste, denn ich hatte dem Rest seines Umfelds etwas voraus. Ich konnte zuhören und er hatte die Möglichkeit mit mir zu sprechen, wie er es seit 20 Jahren nicht mehr getan hatte.

Als wir zwei Wochen gemeinsam verbracht hatten, sagte er irgendwann zu mir, wie sehr er es schätzen würde, bei mir nicht immer die harte Sau sein zu müssen. Er erzählte mir, wie es war, wenn man in seinem Umfeld ein Gespräch führte. Fast immer war die Situation allein schon dadurch aufgeheizt, weil alle so „aggro“ redeten. „Einer ist cooler und härter als der andere.“ Wir wurden in den vier Wochen entspannte Kumpel und es kam auch zu ein paar Situationen, in denen ich unter ihm so etwas wie Welpenschutz auf der Station genoss. Wer hätte am ersten Tag gedacht, dass ich ihn später mal nachts mit Socken bewerfen würde, denn er schnarchte mit gefühlten 60 Dezibel. Selbst Patienten aus anderen Zimmern beschwerten sich über ihn.

Doch leider sollte die Therapie für ihn nicht erfolgreich enden. Er war mit einer Auflage des Gerichts (Therapie statt Strafe) in die Klinik gekommen. Dies ist möglich, wenn jemand eine Gefängnisstrafe von bis zu zwei Jahren zu verbüßen hat und das Delikt in Verbindung mit Drogen steht. Wie ihr euch denken könnt, war das nicht sein erster Gefängnisaufenthalt, den er absitzen musste. Nach knapp vier Wochen türmte er mit einer Frau, die er auf einer anderen Station kennengelernt hatte, Hals über Kopf vom Klinikgelände. Jedoch hatte er sich vor seiner Flucht noch die Zeit genommen, sich von mir zu verabschieden und sich bei mir für die Unterstützung zu bedanken.

Auf mich wirkte er traurig, als er mir sagte, wie sehr er die Gespräche genossen hatte. Aber er erklärte mir auch, dass unsere Welten sich zu sehr voneinander unterscheiden würden und er sich sicher sei, dass er da auch nicht mehr herauskäme. Manchmal, wenn ich mir mit Schwarzem Krauser eine Zigarette drehe, denke ich noch an den Terminator und wie es ihm ergangen sein könnte. Zigaretten drehen mit Schwarzem Krauser. Das ist das, was ich von ihm gelernt habe. Ich behalte ihn als sympathischen Menschen in Erinnerung, der zur falschen Zeit am falschen Ort aufgewachsen ist.